Freitag, 17. Juni 2011

Pazifistischer Aufbruch

Als überzeugter Pazifist hörte ich mehrfach Kritik, ich könne mir eine solche Gesinnung nur leisten, weil im Ernstfalle andere für mich ihren Kopf hinhielten. Eigentlich sei ich ein Drückeberger, der Gewaltfreiheit nur so lange vertreten könne, wie er nicht Opfer von Gewalt werde; Opfer, weil er aber auch in keiner Weise auf einen gewaltsamen Angriff vorbereitet sei, sich nicht verteidigen könne, sich vielleicht tragischerweise auch gar nicht verteidigen wolle.

Zugegeben, die Logik derartiger Rüge liegt in herkömmlichen Denkschemata auf der Hand – aber nicht im Kopf.

Die Geschichte der Völker und Nationen bisher, die Geschichte der Menschheit, ist eine endlose Orgie der Gewalt, der gegenseitigen Demütigung und Vernichtung. Keine Gesellschaftsordnung, kein Staat hat es je geschafft, diesen durch technischen Fortschritt weiter eskalierenden Circulus vitiosus zum Stillstand zu bringen.
Ganz im Gegenteil: Raffgier, lächerliche Ehrbegriffe, rachsüchtige Beschränktheiten und zügelloses Machtstreben bezeichnen die Antriebe für jedes noch so grausame, menschenverachtende Vernichtungsszenario. Die kampfbereiten Zeitgenossen aller Epochen sind „Kanonenfutter“ und nicht einen Deut mehr, ihre Einsatzleiter armselige Deppen der Gewaltverherrlichung.

Alle Kämpfer agieren als Verlierer, denn sie töten das Menschliche.

Was also haben Pazifisten zu verlieren?
Nichts!
Denn es geht darum, was sie wie gewinnen können.
Es geht um faktischen Frieden, nicht um in der Regel verlogene Absichtserklärungen und zu brechende Verträge, nicht um euphorische Konferenzen, deren Grundvoraussetzungen nicht stimmen, weil Machtstrukturen und nicht etwa das menschliche Individuum die Verhandlungen und Beratungen prägen.

„Macht geht von der Emanzipation aus,“ verlangt als eine kosmonomische Friedensthese den Bruch mit gleich mehreren Tabus: mit dem Nationalismus, dem Rassismus, den Auserwähltheits-Religionen, mit dem Militarismus und mit der Ausbeutermentalität.
Die Schlüsselfunktion nimmt das Militär ein, es ist das niederträchtige und zugleich pathetische Vollstreckungsorgan jeder beliebigen Politik. Es basiert auf erzwungenem Kadavergehorsam, der sämtliche Lobpreisungen von Zivilisation und Humanität unterläuft, der als permanenter Skandal nach wie vor als tugendsam glorifiziert wird.

Dennoch beginnt sich deutlich der militärischer Anachronismus in Form von Menschenschlachten mit immer größerer Effizienz von Materialschlachten aufzuweichen, denn die wirklichen Entscheidungen von globaler Bedeutung werden zunehmend auf dem Terrain der Elektronik und Informatik fallen.
Wissenschaft und Technologie sind aber nicht auf militärische Strategien angewiesen, sondern entwickeln sich nach dem Kausalitätsprinzip – wesentlich berechnender und berechenbarer als „Hurra-Patriotismus“, noch unpersönlicher und vernichtender.
Der befehligte Töter bedient einen Hebel, drückt einen Knopf und nimmt vom verursachten Unheil kaum etwas wahr, erfährt vielleicht später einmal aus der Presse ausgewählte Berichte. Oder er fällt selbst einem Siechtum anheim, weil das eigene Militär ihn bewusst mit giftigen Substanzen auf den Gegner hetzte.

Der Mensch wird zur Barbarei fähig, wenn Feindbilder und Hassobjekte die Psyche blockieren; sie sind die sprichwörtliche „Wurzel des Übels“. Einmal ausgesät, wuchert das Kraut und duldet keinen Pazifismus neben sich, erstickt ihn mühelos, denn er ist auf solchem Acker wehrlos, verloren.

Pazifismus erhält seine einzige Möglichkeit zur Realisierung in der Verhinderung der Konstruktion von Feindbildern und Hassobjekten, so utopisch dies auch erscheinen mag angesichts ungebrochener religiöser und ideologischer Indoktrinationen. Sie formen einen Menschen, der – weil er gutmeinend ist – „Glaube, Sitte und Heimat“ verteidigt gegen Unglaube, also „falschen Glauben“, gegen Unsitte, also fremdartiges Brauchtum, gegen Pluralismus, also andere Länder, Kulturen und andere Heimaten.
Dementsprechend fordert Pazifismus kein „Multikulti“, keinen gutmenschelnden Mix aus historischen Kulturen, die wegen ihrer fundamentalen Glaubensansichten nicht friedlich koexistieren können.

Vielmehr meint Pazifismus, wenn er sich von Tagträumereien distanziert, einen Aufbruch heraus aus alten provinziellen Überzeugungen, er sieht die Erfordernis einer bisher unerreichten Neudefinition eines Weltbürgertums, das seine Geschichte(n) nicht leugnet, sondern analysiert zum Zwecke einer kosmonomen Orientierung.

Pazifismus ist kosmonomische Philosophie:
Der Mensch ist nicht sein Feind. Seine überkommenen Weltbilder sind überholt und aufgehoben.
Sein Frieden ist von dieser Welt; jeder Verweis auf „Jenseitigkeit“ beschreibt alberne Vertröstungen.

Mit diesem klaren Bekenntnis zur Möglichkeit des Humanen versucht Pazifismus an Boden zu gewinnen, nicht auf dem Schlachtfeld und schon gar nicht auf dem Gottesacker, wohl aber, um im Bild zu bleiben, in Feld und Flur, in Parks und Gärten, in Kulturlandschaft.
Das Kultivieren des Lebens und seines Raumes geschieht als Intelligenzleistung von unzweifelhaft höherem Wert gegenüber der kriegerischen Zerstörungskapazität.
Dass die globale Situation dennoch vermehrt unter dem destruktiven Provinzialismus krankt, zeigt lediglich, wie sehr wir erst am Anfang einer humanen Weiterentwicklung stehen.

Es liegt in der Natur von Entwicklungsprozessen, dass die noch schwachen und zahlenmäßig unterlegenen, aber differenzierteren Organismen vielfältigsten Bedrohungen ausgesetzt sind und Startschwierigkeiten haben.

Aufrichtiger, konsequenter Pazifismus befindet sich in so einem Stadium, indem Krieg als Mittel der Politik ausgeschlossen wird. Die Optionen dazu liegen in einer ehrlicheren, intelligenteren Politik, die sich verstärkt um Menschenwürde und weniger um vortäuschende Diplomatie bemüht.

Pazifismus ist im demokratischen Verständnis parteiübergreifend, ungeachtet der Tatsache, dass die Mehrheit politischer Parteien wie gehabt Kriegen nicht nur zustimmt, sondern sie in programmatischer wie naiver Zwanghaftigkeit sogar herbeiführt und schürt.

Das, was wir voreilig „Aufklärung“ nennen, symbolisieren ein paar Pflänzchen auf einer von Disteln dominierten Halde aus Kriegsschutt und Trümmern.
Wir leben immer noch in der prähumanen Zeit eines Interimsmenschen.
Diese Erkenntnis aber trägt schon den Charakter des Aufbruchs.

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