Freitag, 11. September 2009

Zeit ist Bewusstsein

Das Phänomen Zeit birgt Rätselhaftes, gar Mystisches, wenngleich die Naturwissenschaft die Zeit mit bewundernswerter Sachlichkeit und Akkuratesse misst und berechnet, sie zur Grundlage zivilisierten Lebens erhebt.
Und dennoch ergibt sich innerhalb der Zivilisation ein Zeitdefizit. Wie ist das zu erklären? Lässt es sich beseitigen?
Versuchen wir zunächst eine Annäherung an den Begriff Zeit.

Astronomische Zeit
Wir verfügen über kein Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Zeit, sondern lediglich über ein bescheidenes Zeitgefühl, das sich aus unterschiedlichen Alltagserfahrungen speist, darüber hinaus schnell versagt, wenn sich Zeiträume in historische Ausmaße erweitern.
Entfernungen, Räumlichkeiten, Helligkeiten, Lautstärken, Gewichtskräfte, Geschwindigkeiten und dergleichen registrieren wir mühelos über Sinneseindrücke. Zeit indessen können wir nur ableiten aus Vorgängen, aus Abläufen, Abfolgen, Bewegungen und Wiederholungen. Sie sind die Existenzgrundlage des Universums schlechthin: Alles bewegt sich ständig, Stillstand gibt es gar nicht. Ein fortwährendes Werden und Vergehen über Zeiträume, die sich uns üblicherweise nicht erschließen, da unsere Erfahrungswelt begrenzt ist auf einen winzigsten Teil des Kosmos, auf unsere Erde und erst neuerdings auch auf den erdnahen Weltraum.
Die astronomischen Rhythmen, Rotationen, Umläufe, Entfernungsschwankungen, Lichtgestalten takten unseren Planeten und alles, was auf ihm beheimatet ist. Der Wechsel von Tag und Nacht war schon den ersten Menschen ein unmittelbares Erleben, Jahreszeitenabfolge, Mondbewegungen, der Wechsel der sichtbaren Sternbilder, damit auch die scheinbare Wanderung der Sonne durch den sogenannten Tierkreis waren früh vertraut. Daraus jedoch eine zuverlässige, allgemein gültige Zeit zu definieren, schien unmöglich. Allein die Festlegung, ob nun der Mond oder die Sonne ausschlaggebend sei, spaltet bis heute die verschiedenen Weltanschauungen der Gesellschaften auf unserem Globus. Im wirtschaftlich-technischen Leben setzte sich schließlich die Zeitdefinition der auf dem Sektor erfolg- und einflussreichsten Staaten durch, sodass die astronomische Sonnenzeit mit einigen technologischen Verfeinerungen, das heißt Genauigkeitssteigerungen, den offiziellen Rhythmus der wirtschaftenden Menschheit vorgibt.

Diese präzise Definition der Zeit ist die Basis der menschlichen Existenz neuzeitlicher Prägung bei allerdings ungebremstem Bevölkerungswachstum. Mit anderen Worten: Die Beherrschung von Terminierungen einerseits führt andererseits in unbeherrschbare Zwänge, zu Fehlentwicklungen, die vor allem in Engstirnigkeit, in der Verantwortungslosigkeit, im Egoismus der die Termine Bestimmenden begründet liegen.
Die astronomische Uhr, so unabdingbar sie für die Lebensentwicklung auf der Erde ist, tickt nunmehr durch den Menschen zu Ungunsten zahlreicher Lebensformen, besonders auch gegen das Menschsein.

Verstaatlichte Zeit
Die astronomische Zeit ist durch Gesetz eine staatliche Zeit, denn es gibt keine Alternative zu einer für alle Beteiligten verbindlichen Methode terminlicher Abstimmungen, soll das Gemeinwesen die heute üblichen hohen Standards erfüllen. Dort, wo man ein eher lässiges Verhältnis zur Zeitgenauigkeit etwa durch wiederholte Unpünktlichkeiten pflegt, beklagt man Ineffizienz. Die verstaatlichte Zeit bedeutet gleichzeitig die Übertragung auf fast die gesamte Privatsphäre, denn die Vorteile zuverlässiger Terminierungen erleichtern ebenso die individuelle Freizeitgestaltung.
Erkauft werden die Vorzüge mit einem weithin kaum beachteten Verlust an Spontaneität. Außerhalb des Terminkalenders ergeben sich kaum noch Begegnungen, denn es müssten sich ja mindestens zwei Terminkalender durch Zufall in unbesetzten, freien Stunden decken.
Bei sehr aktiven Menschen mag es kurzfristig kaum freie Zeiträume geben. Eher passive Zeitgenossen dehnen ihre Aktivitätsunlust gerne auch auf den Terminkalender aus, den sie vernachlässigen, nicht organisieren. Sie schwimmen im Massenstrom der Zeit mit, der durch gedankenlose Medienabhängigkeit, Leichtgläubigkeit, Kritikunfähigkeit und eher anspruchslose Gewohnheitstrotts daherkommt.
Offensichtlich immer weniger Menschen gelangen zu der Skepsis, ob der offizielle und mehrheitlich ja so sinnvolle allgemeine Zeitfluss sie nicht längst überspült, sie fortwäscht als Persönlichkeit, als Kieselstein ohne Zeitbewusstsein, ob nun mit brillanter oder gar keiner Terminrasterung.
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Mein Buch „Menschliches Glauben“ (Siehe Monats-Archiv August 2008), erschienen im österreichischen Novumverlag, wird von allen Medien in demokratischer Geschlossenheit totgeschwiegen: Keine Rezensionen, keine Interviews, keine Reaktionen.
Ich hoffe auf Verständnis, wenn ich nunmehr in jedem Beitrag meines Blogs durch diese „Kleinanzeige“ auf die mediale Gepflogenheit hinweise.
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Individuell personifizierte Zeit
Eine personifizierte Zeit resultiert aus der Verinnerlichung der natürlichen, astronomischen wie der verstaatlichten Zeit, um aus beiden ein ganz ureigenes Zeitbewusstsein der individuellen Einmaligkeit zu erwerben und zu beanspruchen. In der Alltagslast mag dies oft unmöglich erscheinen, Workaholics, Fachidioten und sonstig Süchtige scheiden von vornherein aus, aber zumeist auch diejenigen, die der gnadenlose Überlebenskampf täglich bis zur Erschöpfung auslaugt.

Noch nie aber gab es in den industrialisierten Gesellschaften so viel Freizeit, sodass sogar eine spezifische Freizeitproblematik viele Menschen quält, weil viele sich daran gewöhnt haben, von Kindheit an in Stundenpläne gezwungen zu sein und darüber hinaus Befehle zu empfangen und zu befolgen.
Eine ähnliche Situation beobachtet man in totalitären Gesellschaften, in denen das Privatleben vorrangigen Bestimmungen unterliegt. Gelangen solche Systeme durch politische Umwälzungen zu mehr Freiheit, können viele der abhängig Geprägten mangels eigener Entscheidungsfähigkeiten mit der Unabhängigkeit wenig anfangen, ja sie scheitern allgemein.

Es fehlt ein distinguierter Zeitbezug, was sich signifikant als unerwachsenes, unreifes und geistig flaches Verhalten äußert. Die gängigen Gesellschaftsordnungen bevorzugen dieses „kindische“ Verhältnis, man denke nur an „Kinder Gottes“, „Väterchen Stalin“, „Mutter der Nation“ bis hin zum „Führer“, auch an Maos Feindseligkeiten gegenüber dem Intellektuellen, denn Unmündige lassen sich widerstandsloser blenden und lenken.

Naturgemäß und erfreulicherweise beschäftigen sich junge Menschen zunächst weniger intensiv mit dem Lebensende, verdrängen auch die Zeit, indem sie gesetzte Ziele oft mit Ungeduld erwarten, die nächste Klasse, den Schulabschluss, den Führerschein, eine Urlaubsreise, das Examen usw. Erst im Nachhinein mag das Gefühl aufkommen, dass bei all dem Streben und Erleben „die Zeit nur so dahingeflogen ist“.
Umso bemerkenswerter scheint es, mit wie viel Unsinnigem, man kann es unumwunden auch „Schrott“ nennen, die eigene Lebenszeit ausgefüllt, achtlos vertan wird, oftmals in Folge von gezielten Verführungen im weitesten Verständnis.
Bewertungen allerdings in der Gegenwart und nicht erst über die Vergangenheit vorzunehmen, erfordert einen hellwachen Verstand, der es bei Zeiten vollbringt, die Erziehungsmuster und Absichten zu durchschauen und sich daraus zu befreien.

Lässt sich das Eingangs erwähnte Zeitdefizit beseitigen?
Es hängt sehr davon ab, wie und ob überhaupt die objektiv ablaufende Zeit subjektiv wahrgenommen wird, um sie individuell verarbeiten zu können, den eigenen Platz im zur Verfügung gestellten Zeitfenster, das Leben heißt, zu verifizieren und zu beeinflussen.

Zeit wird so zu einer intellektuellen Herausforderung. Wer solche Anreize überhaupt nicht registriert, fristet seine Zeit unbewusst durch ein Dahinvegetieren.
Alle Geschehnisse sind geschehen, sie lassen sich nicht ausradieren oder löschen. Das Individuum kann sich lediglich gegenüber dem Geschehen positionieren, es akzeptieren, würdigen, verdrängen, leugnen, vergessen usw. Und es kann klare Vorstellungen von künftigen Geschehnissen entwickeln, wobei allerdings das Glauben zwar allenthalben propagiert wird, aber die denkbar ungünstigste Methode für Planungen darstellt.

Das Hier und Jetzt, so augenblicklich es erscheint, besitzt im Massenalltag viel zu wenig Gewicht, ständig wird über Vergangenes debattiert und lamentiert, über Künftiges orakelt, häufig mit verängstigendem Wichtigtun, aber die Gegenwart wird diplomatisch umschwafelt.
Aus kosmonomer Sicht beschreibt das einen fatalen Sinnverlust, es ist die versuchte Verhinderung des Individuums, des Selbsts, des Ichs.
Jetzt, da ich hier stehe, sitze ...., muss ich mich fragen: Will ich das wirklich, was ich tue, kann ich das? Ertrage ich es nur oder lehne ich es ab und prostituiere mich sogar? Und was sind meine Gründe?

Erwache ich aus dem Schlaf, ist es mein Pulsschlag, vielleicht meine innere Uhr, die mich aufmuntern, mein Körper, der mir Wohlgefühl oder Ungemach mitteilt, alle sinnlichen Wahrnehmungen, Gedanken sind meine und nicht die meiner Arbeitsstelle, eines Chefs, Kommandeurs, Popen oder Politikers.
Ich erwache, nicht jene!

Die bewusste Standortbestimmung meines Ichs ist die Voraussetzung für alles Weitere, für zu ziehende Konsequenzen und für das sich zuverlässige Einbringen in die Gemeinschaft, von der ich profitieren möchte wie sie von mir.
Man wechselt aus seiner individuellen Zeit in die staatliche, offizielle Zeit, ohne die personifizierte Zeit gänzlich auszuklinken. – Übrigens eine Horrorvorstellung für den Kapitalismus, denn er präferiert den stumpfsinnigen Arbeitstakt zur Ausbeutung der Arbeitskraft.

Gerade auch während der Pflichterfüllung in der Arbeitswelt ermöglicht die individuelle Persönlichkeit das Menschsein durch Hinwendung zum Mitmenschen, durch kreatives und verantwortungsbewusstes Agieren und nicht durch banalen, routinemäßigen Aktionismus.
In der Freizeit kann die individuelle Zeit eine maßgebliche Rolle übernehmen, sie wird jedoch selten so umgesetzt, weil Klischees, Mode, Traditionen, irrationale Ehrbegriffe, Spießigkeit und Opportunismus schwer überwindliche Hindernisse auftürmen.

Das stupide Konsumverhalten, die Jagd nach dem überflüssigen Schnäppchen, die Protzerei mit Statussymbolen stoßen an Wachstums- und Belastungsgrenzen, erzeugen beiläufig Feindbilder und stacheln global unverhohlen zu Kriegen an, deren erstes Opfer immer das Individuum ist.

Dann aber gibt es kein Zeitdefizit mehr, der Tod kennt weder Zeit noch „Ewigkeiten in himmlischen Gärten“.

Erst wenn der gegenwärtige Interimsmensch durch Selbstbestimmung und Friedfertigkeit Zeit für sich gewinnt, sich kosmonomisch zu positionieren weiß, wird er zum Menschen werden und das Sein zu einem bewussten Menschsein.

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